Die Diagnose „Reizdarm“ wird häufig gestellt, wenn keine andere körperliche Ursache für die Magen-Darm-Beschwerden gefunden werden kann. Doch dieser Begriff ist oft ungenau und beschreibt nur die Symptome, ohne die wahren Ursachen zu ergründen. Was bedeutet „Reizdarm“ wirklich?
Keine Diagnose, sondern Sammelbegriff
Die Diagnose „Reizdarm“ (IBS – Irritable Bowel Syndrome) wird häufig gestellt, wenn Patienten unter wiederkehrenden Bauchschmerzen, Blähungen und einer gestörten Verdauung leiden, aber keine organischen Ursachen festgestellt werden können. Diese Diagnose ist jedoch kein fester medizinischer Befund, sondern ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Symptomen, deren Ursprung nicht eindeutig geklärt werden kann. Studien zeigen jedoch, dass 60-80 % der Patienten mit Reizdarm an einer Darmdysbiose leiden, also einem Ungleichgewicht der Darmmikrobiota (Videlock & Mawe, 2014). Diese Dysbiose könnte ein wesentlicher Faktor für die Entstehung der Beschwerden sein.
Darüber hinaus haben viele Menschen mit Reizdarm auch eine geschädigte Darmschleimhaut, was zu einer verminderten Barrierefunktion führt und die Aufnahme von Nahrungsmitteln und Toxinen beeinflussen kann. Auch die Kommunikation zwischen dem Nervensystem und dem Verdauungssystem spielt eine entscheidende Rolle.
Das Nervensystem und seine Rolle bei der Verdauung
Das Nervensystem spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung der Verdauung und beeinflusst, wie der Körper auf Nahrungsaufnahme und Stress reagiert. Es besteht aus zwei Hauptsystemen: dem somatischen Nervensystem und dem autonomen Nervensystem.
Das somatische Nervensystem ist für die bewusste Steuerung der Muskulatur verantwortlich. Es ermöglicht unter anderem die willentliche Kontrolle von Bewegungen, wie das Schlucken. Obwohl es die Verdauung nicht direkt steuert, beeinflusst es bestimmte Prozesse wie die Aufnahme von Nahrung. Das autonome Nervensystem hingegen regelt die Verdauung unbewusst und besteht aus zwei wichtigen Komponenten: dem Sympathikus und dem Parasympathikus.
Der Sympathikus wird oft als „Kampf-oder-Flucht“-System bezeichnet. In stressigen oder gefährlichen Situationen wird es aktiviert und sorgt dafür, dass der Körper auf Alarmbereitschaft geht. Dies hat jedoch eine hemmende Wirkung auf die Verdauung, da der Körper seine Energie auf die Reaktion auf Stress konzentriert. Ein überaktiver Sympathikus, etwa durch chronischen Stress, kann Verdauungsprobleme wie Blähungen, Durchfall oder Verstopfung verstärken.
Der Parasympathikus ist das Gegenstück dazu und fördert die Entspannung und Regeneration des Körpers. Er unterstützt die Verdauung, indem er die Bewegungen des Darms anregt und die Produktion von Verdauungssäften fördert. In stressfreien Zeiten sorgt ein aktiver Parasympathikus für eine effiziente Verdauung und eine gesunde Darmfunktion.
Ein gestörtes Gleichgewicht zwischen diesen Systemen, aufgrund von Stress, kann zu Reizdarm-Symptomen führen. Gemessen kann die Funktion des autonomen Nervensystems durch die Herzfrequenzvariabilität (HRV). Ein niedriger Wert weist auf eine übermäßige Sympathikus-Aktivierung hin, während eine höhere HRV mit besserer Parasympathikus-Funktion und einer entspannteren Verdauung verbunden ist.
Unzureichende Untersuchungen
Leider wird die zugrunde liegende Ursache oft nicht genau untersucht, da sich die Diagnostik meist auf Standardtests wie Laktose- oder Fruktoseintoleranztests, Magenspiegelungen oder Ultraschalluntersuchungen beschränkt. Diese Verfahren können zwar Unverträglichkeiten, strukturelle Veränderungen oder Entzündungen erkennen, erfassen jedoch nicht funktionelle Störungen des Darms, wie eine Dysbiose oder eine geschwächte Schleimhautbarriere. Betroffene erhalten daher häufig die Antwort: „Du musst damit leben“. Diese pauschale Aussage lässt zentrale Aspekte der Darmgesundheit unbeachtet und verhindert eine gezielte Behandlung. Dabei haben die Beschwerden, die als Reizdarm bezeichnet werden, oft eine Ursache, die durch eine umfassendere Diagnostik und eine individuell angepasste Therapie erkannt und behandelt werden kann.